Im urbanen Alltag begegnet man zu vielen Räumen, die bloss den funktionalen Ansprüchen gerecht werden. Sie sind oft kühl, abweisend, leblos. Doch von einer guten Atmosphäre hängt ab, ob der Mensch sich gern an einem Ort aufhält. Dominik Siegrist, Leiter des Instituts für Freiraum und Landschaft (ILF), eröffnete die gut besuchte Fachtagung mit der Frage, inwiefern denn Pflanzen, Materialien, Jahreszeiten, aber auch Geräusche, Gerüche und Bewegungen unsere Wahrnehmung beeinflussen würden. Er lud die Besucherinnen und Besucher auf eine gedankliche Reise ein, verborgene Atmosphären aufzuspüren und herauszufinden, wie sie zustande kommen und wovon sie abhängen. Geboten wurde ein facettenreicher Exkurs in die Welt der Sinne auch dank den Call for Papers (Aufruf nach Kurzreferaten) – einem Novum am diesjährigen Rappi-Tag.
Neue Empfindsamkeit in der Landschaftsarchitektur
«Wie so vieles, was uns geprägt hat, stammt auch der Begriff Atmosphäre aus der Antike», begann Michael Jacob, Professor für Geschichte und Theorie der Landschaft, seinen geschichtlichen Abriss. In seinem Referat stellte er verschiedene Menschen vor, welche die Diskussion über Atmosphäre, Raum und Sinnlichkeit massgeblich beeinflusst haben. Aristoteles behandelte in seinen Schriften den Raum nicht im modernen Sinn, wie wir ihn heute kennen, führte Jacob aus. Filippo Brunelleschi (Architekt der Domkuppel in Florenz)begründete um 1410 mit seinem öffentlichen Spiegelexperiment die mathematisch konstruierbare Perspektive und wird als erster Held der Moderne gefeiert. Raum wird messbar, planbar. Mathematik, Geometrie und das rationale Planen finden Eingang in die gebaute Welt. «Heute leben wir in Containern, ohne Atmosphäre. Wir stellen uns zu wenig die Frage, wie wir als Mensch Raum erleben und uns darin fühlen», wiederholte Jacob mehrmals.
Im 20. Jahrhundert üben viele Kunstschaffende eine radikale Kritik an der Moderne. Jacques Tati beklagt in seinem Film «Playtime» die Abwesenheit von Atmosphäre in einem futuristischen Paris aus Stahl und Glas. Walter Benjamin definiert die «Aura» als Phänomen von Natur und Kunst, die durch die Einmaligkeit erreicht wird. Mit der technischen Reproduzierbarkeit verfalle die atmosphärische Wirkung. Friedrich Nietzsche kreierte den «Leibbegriff» und zeigte, dass der Mensch nicht nur ein rationales, sondern auch ein seelisches Wesen ist. «Können wir, ausgehend vom Leibbegriff Nietzsches, anders planen?», fragte Jacob und schloss mit den Worten, dass gegenwärtig Architektur viel mit Landschaftsarchitektur zu tun habe. Wenn Landschaft zum Gebäude hinzugefügt werde, ergänze sich das Rationale mit dem Seelischen. Doch leider verlören viele Projekte ihre wohltuende Atmosphäre durch eine totale Ästhetisierung (overdesign).
Sinnliche Wahrnehmung im Stadtraum
«An Artist’s View of the Urban» von Larissa Fassler, Künstlerin aus Berlin, und «Ein städtebautheoretischer Blick» von Anne Brandl, Stadt- und Regionalplanerin aus Zürich, waren Vorträge, die zwei verschiedene Herangehensweisen beschrieben, den urbanen Raum zu verstehen. Fassler hat ihr eigenes subjektives System entwickelt, um die Beziehung zwischen Mensch und Raum zu lesen. Sie zeichnet Bewegungen auf, fotografiert Beleuchtungen, Strassenschilder und Plakatwände, speichert, was passiert, wo jemand weint, wann der Brunnen abgestellt wird oder wie die Polizei jemanden büsst, und erhält so ihr Raumbild. Eine faszinierende Methode einer Ortsanalyse, für die man sich in der Praxis oft zu wenig Zeit nehme, wie Hansjörg Gadient später bemerkte.
Brandl blieb theoretischer. Sie wies darauf hin, dass der Atmosphärenbegriff in den letzten Jahren dank zahlreicher Publikationen zum Shootingstar avancieren konnte. Sogar Immobilienwirtschaft und Stadtmarketing hätten das emotionale Erlebnis als zentrale Ware des postindustriellen Zeitalters erkannt. «Städtebau versteht sich immer noch als visuelle Gestaltungsdisziplin», betonte Brandl und fügte hinzu, dass heute vermehrt danach gefragt werde, wie man einen Platz erlebe, und weniger, was ein Platz sei. An dieser Stelle zitierte sie Gernot Böhmes Theorie der «Ästhetik der Atmosphären», wonach nicht das, was man sieht, sondern das, was man empfindet, wichtig ist. Ziel sei es, Elemente so zu mischen, dass unsere Gefühle dadurch angesprochen würden. Nicht die Raumkunst, sondern die Beziehungskunst stehe im Vordergrund. Diesen Zusammenhang hätten Grosskonzerne mit dem Bau von Campus-Räumen erkannt: Menschen sollen sich erleben können.
«Romeo und Julia» oder der Landschaftsarchitekt als Regisseur
Bei der Beurteilung der Qualität eines Entwurfes gibt es konkrete Messgrössen wie Funktionalität oder Proportionen, aber auch weniger leicht zu fassende Kriterien wie die Atmosphäre. Sie kann viel zur Anziehungskraft und Identität eines Ortes beitragen. Der Film arbeitet stark mit Atmosphären und Stimmungen, um eine Handlung zu unterstützen.
Hansjörg Gadient, Professor für Freiraumentwurf an der HSR, erwartete von seinen Studierenden in einer Entwurfsübung Aussenraumgestaltungen mit starken Stimmungen, in denen die entsprechenden Filmszenen gedreht werden können. Simon Baumann inszenierte den Fechtkampf zwischen Romeo und Tybalt in einer Eishöhle. Das Eis und das kalte Blau der Dämmerung standen für den Hass der verfeindeten Familien. Höhle und Eiszapfen unterstützen die Aggressivität des Kampfes. Die Todesszene von Romeo und Julia wollte Helena Bleiker nicht wie erwartet in dramatischer Umgebung sehen. Stattdessen gestaltete sie eine Aussenraumkulisse, bestehend aus blühenden Obstbäumen in einer Blumenwiese. Die in strahlender Morgensonne eingetauchte Landschaft symbolisierte den Neuanfang und die Liebe und das Leben nach dem Tod. Die Präsentation war ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Menschen ihre Wahrnehmung kultivieren können.
Five Practicle Things We Know About Atmosphere
«Der Erlebnisaspekt der Landschaftsarchitektur spielt eine zentrale Rolle in unserem Beruf, wird aber selten diskutiert», meinte Robin Winogrond. Die Landschaftsarchitektin und Mitinhaberin des Studios Vulkan in Zürich erklärte in einer fünf Punkte umfassenden Matrix ihr Rezept, um Atmosphäre zu verstehen und greifbar zu machen:
• Erstens: Der rationale Ansatz der Raumbildung und der Wunsch nach Ordnung und Klarheit wurden zu lange überbewertet. Das Irrationale und Subjektive findet wieder ein Echo.
• Zweitens: Der gestaltete Boden, auf dem du dich bewegst, bewegt dich. Er trägt, leitet, verlangsamt oder verleitet.
• Drittens: Das eigentliche Ziel der Entwurfsarbeit ist nicht die Gestalt an sich, sondern die modulierte Raumempfindung.
• Viertens: Der in der Schweiz zu gestaltende Raum ist fast immer klein. Um das geistige Erlebnis von Grosszügigkeit und Offenheit zu ermöglichen, müssen mit Aussichten andere Landschaften «geborgt» werden.
• Fünftens: Ein Platz ist nicht da, um ihn anzustarren. Die (Gestaltungs-)Elemente sind so zu platzieren, dass er als soziales Ereignis empfunden wird. Das Atmosphärische ist dazwischen.
Identität durch Atmosphäre
Am MFO-Park in Zürich-Oerlikon sind einige der von Winogrond beschriebenen Punkte wiedererkennbar. Sibylle Aubort Raderschall von Raderschallpartner AG,
Meilen, erklärte, wie das Projekt über viele Sinneserfahrungen Erinnerungen wachrufen und so Identität erschaffen werden sollte. Das mit Kletterpflanzen überwachsene «Gebäude» aus Stahl lässt Licht, Wasser und Luft durch. Nach dem Regen regnet es weiter. Tiefe Splittbeläge verlangsamen den Schritt. Vogelgezwitscher, Farben und Düfte untermalen die einmalige Stimmung. Die Dichte der inneren Welt im Pflanzengebäude kontrastiert mit der Offenheit und Weitsicht auf dem Dachgeschoss. «Sehen, Riechen, Tasten, Hören, Gebremstwerden, all das gehört zur Atmosphäre», schloss Aubort Raderschall ihr Referat.
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