Auf den ersten Blick erscheint der Garten typisch kanadisch: der Grill, die Gartenstühle, der Tisch – wären da nicht noch die Hennen Bianca, Pearl, Licorice und Cayenne. Sie picken und scharren im Garten. Sie sehen aus wie glückliche Hühner und – ihre Haltung ist illegal. Trotzdem hält die Besitzerin die Hennen seit zwei Jahren unauffällig in ihrem Garten in einem Mittelstand-Wohnquartier mitten in der Stadt Toronto: «Es macht für mich mehr Sinn, hier in meinem Garten die Eier direkt aus dem Nest zu holen, anstatt mit dem Auto in das Einkaufszentrum zu fahren und dort Eier zu kaufen, die von weit weg in die Stadt gekarrt wurden», begründet die Frau mit den kurzen Haaren und der modischen Brille ihre Motivation, bewusst das Gesetz zu brechen. Angefangen habe sie damit, als ihre Kinder noch klein waren. «Es war für mich wichtig, zu wissen, dass uns die Eier nicht krank machen. Ich weiss, was wir den Tieren füttern.»
Lokavoren sind verrückt nach Eiern
Mit ihrer Hühnerhaltung befindet sich die Mutter von zwei Teenagern, die in
der Öffentlichkeit nur unter dem Namen «Toronto Chicken» bekannt ist, in guter Gesellschaft. Die Hühnerbesitzerinnen sind Lokavoren und Teil einer globalen Bewegung, die sich der lokalen Nahrungsmittelproduktion und -konsumation verschrieben hat (siehe Kasten). Im städtischen Umfeld wird das urbane Landwirtschaft genannt. Die Hühnerhaltung ist Teil davon. Leben Lokavoren auf dem Land und halten Hühner, ist das keine Zeile wert, sollen die Hühner hingegen in der Stadt gluckern, ist das politisch ein brisantes Thema, besonders dort, wo das Federvieh seine Eier unbewilligt legt.
Wer heute Hühner hält – und es sind nach Schätzungen der gut vernetzten Aktivistin Hunderte von Hühnern, die in Torontos Gärten gluckern – macht sich strafbar, was die wirklich Hühnerverrückten nicht davon abhält, in das Abenteuer der städtischen Tierhaltung einzusteigen. Immer mehr Städterinnen und Städter hantieren mit Giesskanne und Spaten, sie züchten Bienen und ernten Stadtäpfel. Damit
aber nicht genug. Stadtmenschen in San Diego, Vancouver, New York, Portland, Seattle, Chicago oder Auckland sind verrückt nach Hühnern, mehr noch nach deren Eiern. «Der Geschmack der Eier, die von den eigenen Hühnern stammen, schlägt alle Eier, die du im Laden kaufen kannst», sind sie sich einig.
Angst vor Repression
In zahlreichen Städten der Industrieländer wurde die Hühnerhaltung in den letzten Jahren auf Druck von Bürgerbewegungen legalisiert. Stadtverwaltungen schätzten die gesundheitlichen Risiken wie die Übertragung von Krankheiten als gering ein und erlaubten deshalb die Hühnerhaltung. Vancouver war die erste Stadt in Kanada, welche die Hühnerhaltung 2010 legalisierte. Die Verwaltung entwickelte einen Anmeldeprozess. Hühnerhalter registrieren sich heute auf der Website der Stadt. Dort wird auch über alle Aspekte der städtischen Hühnerhaltung informiert. In Toronto, wo die Hühnerhaltung derzeit noch illegal ist, hat sich eine gut organisierte Untergrundbewegung gebildet. Kontakte werden nur unter der Hand weitergegeben – aus Angst um die Hühner und vor Repression. Wer entdeckt und angezeigt wird, erhält Besuch von der Gesundheitsbehörde und muss die Hühner aus der Stadt schaffen und eine Busse bezahlen.
Immigrantenfamilien brachten Hühner
Ausgerechnet Toronto, die Stadt, die in städtischen Ernährungsfragen erfahren ist, tut sich schwer mit der eierlegenden Spezies und zögert mit deren Legalisierung: Wer weiss, welche Viren sich durch die Hühner verbreiten und den Menschen schaden könnten, so die offizielle Begründung der Verwaltung. Bis 1983 war das Halten von Hühnern jedoch auch in Toronto erlaubt. Immigrantenfamilien brachten nicht nur die Landwirtschaft in die Stadt, sondern auch die Kleintierhaltung. Nebst Tauben und Hasen wurden Hühner gehalten. Mitte der 80er-Jahre zog die Stadt die Notbremse – auch damals aus Gesundheitsgründen und um als fortschrittliche Stadt zu gelten. Zu viele Hühner gackerten in den innerstädtischen Wohnquartieren.
Allerdings ist diese Haltung aus Sicht von LJ, Hühnerhalterin und Aktivistin der ersten Stunde, übertrieben. Damals hielten die Familien mehr Tiere auf engstem Raum. «Die Hühnerschar heute beschränkt sich auf drei bis sechs Hühner pro Familie», sagt LJ. Sie sieht ökologische Vorteile in der Hühnerhaltung: «Sie fressen unserer Küchengrünabfälle, wir verwenden ihren Kot als Gartendünger, der ideale Kreislauf.» Die Hühnerhaltung sei jedoch nicht für alle, gibt sie zu bedenken: «Wer Hühner hält, muss einen regelmässigen Lebensstil pflegen und sich gut organisieren.»
Nachbarn mit Eiern bestechen
Zusammen mit der Toronto Chicken Lady ist LJ eine der treibenden Kräfte bei der Arbeit um die Legalisierung der Hühnerhaltung in Toronto. Die Frauen sind von den Medien für Interviews begehrt, geben aber auch Auskunft bei Fragen zu Kauf, Haltung und Überwinterung oder zu Futter, Krankheiten und Tierärzten –und bei der Mutter aller Fragen: Wohin mit den Tieren, wenn sie nach ein paar Jahren keine Eier mehr legen?
Auch gilt es, Mythen, die sich hartnäckig um die Haltung der Tiere halten, zu entkräften, so den Mythos der Geruchs- und Lärmbelästigung durch Hennen – Hähne hält niemand. Die Chicken Lady und LJ geben auch Tipps, wie Nachbarn an Bord geholt werden, damit sie die Gesundheitsbehörde nicht informieren – diese mit frischen Eiern bestechen – oder mit Tipps zur Eierverarbeitung. Unzählige Geschichten machen in diesen Kreisen die Runde von den Nachbarn, die mittlerweile auch eierlegendes Federvieh ihr Eigen nennen, oder von den Dinner Parties, an denen überzählige Eier in fantastische Soufflées verwandelt wurden. Die private Haltung dieser Tiere hat auch soziale Aspekte.
Rückständig war gestern – Hühner sind heute
Heute beschäftigt das Thema die Medien und die Öffentlichkeit, aber auch die Stadtpolitik. Die Aktivistinnen organisieren für noch nicht überzeugte Stadträte Führungen zu Hühnerhaltern. Sie veranstalten aber auch öffentliche Podien wie kürzlich an der University of Toronto. Das Podium war hochkarätig besetzt mit einem Stadtrat, einem Anwalt, einem Arzt und mit Aktivistinnen und Aktivisten aus Toronto und umliegenden Städten. Der Saal war voll, die Stimmung emotional und ernst. «Hühner sind nur die Spitze des Eisbergs, es geht um etwas anderes, nämlich darum, wieder einen Bezug zu unseren Nahrungsmitteln zu bekommen», erklären die Chicken Lady und LJ ihre Leidenschaft, die sie mit vielen anderen teilen. «Dies ist eine unaufhaltbare Bewegung», ist sie überzeugt. Der Arzt gab grünes Licht, die Hühner stellten kein Gesundheitsrisiko dar. Somit scheint sich die Einstellung auch in Toronto zu ändern: Progressive Städte erlauben heute die Hühnerhaltung. Rückständig war gestern – Hühner sind heute. Noch müssen unentschlosssene Stadträte überzeugt werden. Wird die Haltung legalisiert, braucht es ein Informations- und Registriersystem, spezialisierte Tierärzte, aber auch das fachgerechte Schlachten der Hühner muss thematisiert werden. Mittlerweile will LJ diese Arbeit selber übernehmen. Sie lernt das Töten bei einem Metzger, der das Handwerk noch kennt. Auch das gehört zur Tierhaltung. Oder wie sie selber sagt: «Walk the talk» – praktizieren, was man predigt.
Wer sind Lokavoren ?
Das Wort Lokavoren (Lokal(fr)esser) wurde in Anlehnung an die Begriffe Carnivoren (Fleischfresser) und Herbivoren (Pflanzenfresser) 2007 in San Francisco begründet. Die Lokavoren-Bewegung ermutigt Konsumentinnen und Konsumenten, nur Nahrungsmittel zu essen, die innerhalb eines 100 -Kilometer-Radius von ihrem Wohnort entfernt produziert wurden. Als Lokavoren bezeichnen sich also Menschen, die daran interessiert sind, zu essen, was lokal produziert und nicht über lange Distanzen transportiert wurde. M. Jäggi
Basel: von Trend noch keine Spur
In Basel lässt sich keine Lobby für Stadthühner finden – sie sind weder politisch noch in der Öffentlichkeit ein Thema. Genau deswegen will die besuchte Familie, die in einem grossen Garten in einem Basler Vorstadtquartier Hühner hält, unerkannt bleiben. «Wir fanden es sinnvoll für die Lebensbildung unserer Kinder», erklärt der Besitzer die Motivation. Und: «Sie sind einfacher zu halten als Hunde, weil sie nicht so personenbezogen sind.» Die Nachbarschaft habe positiv reagiert, das Problem seien die vielen Marder. Deshalb muss das Gehege gedeckt werden. Allerdings seien in Basel Tierärzte nicht auf Stadthühner spezialisiert, auch er musste sich auf dem Internet Informationen zu Krankeiten und Behandlungen holen. «Entscheidend ist die Anzahl der Hennen pro Halter.» Etwas anderes muss auch klar sein: «Hühner scharren und picken. Wo der Boden trocken ist, baden sie im Staub und reinigen so ihre Federn.» Hühner und grüne Rasenflächen – das funktioniert nicht. M. Jäggi
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