Wer kennt sie nicht, die Sieben Weltwunder? Die Pyramiden von Gizeh kann man noch besuchen, unter dem Koloss von Rhodos kann man sich gut etwas vorstellen. Die Hängenden Gärten der Semiramis aber bleiben mythisch. Sie bleiben ungreifbar, waren sie jemals Wirklichkeit?
Wer einmal im Pergamonmuseum in Berlin vor dem Ischtar-Tor stand, einem der ehemaligen Stadttore Babylons, bekommt ein Gespür, in welchem Kontext die Gärten der Semiramis zu sehen sind und welche visuelle Kraft diese auf ihre Besucher ausgeübt haben mochten.
Das Gartenhochaus Aglaya in Risch-Rotkreuz erinnert ein wenig an dieses Wunder der Antike. Mit Mut zur Realisation einer Wohnvision und Sinn für ökonomische Belange wurde dieses Projekt gestartet, geplant und befindet sich nun kurz vor der Fertigstellung.
Ausgangslage
Die Zug Estates AG investiert und entwickelt in Risch-Rotkreuz das fast 100 000 m2 grosse Areal «Suurstoffi» zu einem neuen nutzungsdurchmischten Quartier. Teile sind bereits realisiert.
Für das sich weder durch Lage noch Aussicht auszeichnende Baufeld C wurde ein Studienauftrag für ein Hochhaus durchgeführt. Die ambitionierten Ziele in den Worten der Bauherrschaft: «Es soll mit einer nicht monotonen, belebten und ‹grünen› Fassade klar als Wohngebäude erkennbar sein und etwas Einzigartiges in der Schweiz darstellen. Ziel ist es, ein Gebäude mit grosser Innovationskraft auf unterschiedlichsten Ebenen zu realisieren. Das fertige Gebäude muss als ‹einmalig, grün, energie- und kosteneffizient (in der Erstellung wie im Betrieb) sowie nachhaltig› beschrieben werden können.»
Das Projekt des siegreichen Teams um Ramser Schmid Architekten sowie Lorenz Eugster Landschaftsarchitektur und Städtebau GmbH ist ein 70 m hohes Hochhaus mit 85 Eigentumswohnungen von 1,5 bis 5,5 Zimmern. In den ersten vier Etagen sind Büro- und Gewerbeflächen vorgesehen. Im 4. Stock befindet sich das Technikgeschoss, was das Dach frei von Haustechnik hält. Darüber liegen die Wohnungen. Es ist konzipiert als Garten-Hochhaus mit begrünten Balkonen, einer Dachterrasse mit unterschiedlichen Sitzbereichen und einem sommergrünen Baumdach.
Der Begriff «Garten-Hochhaus» erscheint im ersten Moment widersprüchlich, doch ist er die zentrale Entwurfsidee. Le Corbusier träumte einmal davon, Landhäuser zu stapeln. Diese Vision wurde aufgegriffen und durch die Architekten neu interpretiert. Raphael Schmid erklärt, dass jede Wohnung dieses Hochhauses ihren eigenen Garten vor der Tür hat. Die Fenster sind panoramisch angelegt; im Vordergrund ist der Garten, den Hintergrund bildet die Landschaft der Voralpen. Das Grün ist dabei kein Pflanzenregal, sondern prägt das Raum- und Lebensgefühl. Nach der Idee des Landschaftsarchitekten Lorenz Eugster wird das Grün dadurch zum integralen Bestandteil des Gebäudes und ist nicht nur verschleiernder Vorhang der Fassade. Die Balkonräume sind häufig zweigeschossig angeordnet. Dies rhythmisiert die Fassade und schafft Luftraum für Pflanzungen. Sogar Kleinbäume erhalten dadurch Platz. Das Grün kann so in die grosszügigen Wohnungen wirken, die Grenze zwischen Aussen und Innen löst sich auf. – Kein neues Thema im bodengebundenen Wohnen der Moderne, jedoch ein Novum im Hochhausbau.
Fassadenbegrünung – technische Grundlagen
Ein Hochhaus stellt einen extremen Standort dar. Es exponiert sich in alle Himmelsrichtungen: Seine Südseite heizt sich stark auf. Der Norden bleibt kühler. Alle Fassaden leiden hier und da unter einem Regenschatten und an der Westfassade beeinflussen Fallwinde die Vegetation.
In den ersten vier Geschossen sind Gewerbenutzungen ohne begrünte Fassaden vorgesehen. Der «vertikale Garten» beginnt also erst im fünften Stockwerk, weshalb für alle Pflanzen ausreichend grosse Tröge an der Fassade verwendet werden mussten. Für die Versorgung mit Wasser und Nährstoffen in optimaler Qualität und Menge mussten spezielle technische Lösungen gefunden werden. Auch für das Substrat galten besondere Anforderungen: Es musste strukturstabil sein, genügend Wasserhaltekapazität aufweisen und gleichzeitig nur moderate Auflasten verursachen. Diskutiert wurde, ob die Tröge mit einer Anstaubewässerung konstruiert werden oder ob sie wie Pflanztöpfe von oben mit Wasser versorgt werden und über einen Überlauf verfügen. Der Entscheid fiel für die Anstaubewässerung. Bei dieser Lösung gibt es am Trogboden permanent Wasser, die Pflanze kann jederzeit auf das lebenswichtige Element zugreifen. Viele weitere Fragen abseits des Gewohnten mussten beantwortet werden: So etwa zum Brandschutz oder auch zum gärtnerischen Unterhalt im 21. Stock einer Eigentumswohnung.
Wie oben beschrieben, sollte jede Wohnung ihren individuellen Garten erhalten. Die Architekten legten die Grundrisse so an, dass keiner dem anderen gleicht. Gleiches gilt für die Pflanztröge, die sich in Form und Grösse unterscheiden.
Bewässerungskonzept
Das Bewässerungskonzept sieht vor, dass die einzelnen Tröge kaskadenartig von oben nach unten mit Wasser versorgt werden. Von Trog zu Trog führen Leitungen. Das Wasser wird einem Regenwassertank entnommen, der sich im Untergeschoss befindet und von den umliegenden Dächern gespeist wird. Dieses Wasser wird über eine Druckleitung nach oben gepumpt und dabei auf die verschiedenen Fallstränge verteilt. Bei Bedarf kann mit Leitungswasser ergänzt werden. Zu Beginn der Planung war dies das Grundkonzept. Die Anstaubewässerung hat jedoch einen Nachteil: Wird zum Beispiel eine Staude in einen Trog mit 1 m Tiefe gepflanzt, liegen zwischen Staudenwurzel und Anstauebene ca. 80 cm. Bei Sträuchern und Solitären verringert sich dieser Wert, aber für alle Pflanzen gilt, dass sie erst wachsen müssen, um das geliebte Nass zu erreichen. So wurden bei einigen, aber nicht allen Trögen, das bestehende Kaskadensystem mit einer sensorgesteuerten Tröpfchenbewässerung ergänzt. Dadurch können in den ersten Jahren Ausfälle durch Wassermangel weitestgehend verhindert werden. Die Tröpfchenbewässerung wird über die Druckleitung erschlossen. Wie bei der Kaskade stellt die Regenwasserzisterne die Grundversorgung sicher und wird bei Bedarf mit Leitungswasser ergänzt. Der Sommer- und der Winterbetrieb unterscheiden sich dadurch, dass im Winter auf die Tröpfchenbewässerung verzichtet wird.
Pflanzkonzept
Es gibt drei Bereiche mit Pflanztrögen: vor den Wohnungen, in Nischen und auf der Dachterrasse. Jeder Wohnung sind zwei bis drei Tröge, jedem Erschliessungsgang und Treppenhaus eines Stockwerks eine begrünte Nische zugeordnet. Diese sorgen für grünes Licht in den Gängen und lassen auch den Blick in den Himmel zu. Die Dachterrasse mit ihren grossen Trögen wird als grünes Baumdach ausgeführt. Die Jahreszeiten sollen hautnah und sichtbar erlebt werden. Im Frühjahr blüht es, im Sommer grünt es und im Herbst dominieren rote Töne.
Es wurden zirka 140 Solitärbäume, 200 Heckenpflanzen, 350 Sträucher, 1200 Kletterpflanzen und 14 000 Stauden in über 50 Arten gepflanzt. Die Pflanzenkomposition und -auswahl wurde intensiv durch externe Expertenmandate unterstützt. Die Hochschulen Rapperswil und Wädenswil halfen bei Detailfragen zu Gehölzen und der Substratwahl. Fritz Wassmann-Takigawa lieferte wertvolle Beiträge zu Fragen rund um die Kletterpflanzen. Wichtige Erfahrungswerte konnten die Firmen Forster Gartenbau und Ingold Gartenbau zum Thema Begrünungen einbringen. So konnte ein Pflanzsortiment zusammengestellt werden, das bestmöglich den extremen Bedingungen am Standort gerecht werden wird.
Neben der Flora ist auch die Fauna erwünscht und geplanter Bestandteil des Pflanzkonzeptes. Die Pflanzenauswahl soll unterschiedliche Lebensräume und Nahrungsquellen für Insekten und Vögel sicherstellen. Acer opalus und Parrotia persica sind z. B. Futterpflanzen für Schmetterlinge und Bienen. Das Büro Plan B, Büro für Landwirtschaft und Biodiversität, hat hier in den frühen Phasen wichtige und wertvolle Erkenntnisse einfliessen lassen.
Es gibt insgesamt acht Pflanzenarrangements – vier süd- und vier nordexponiert. Alle Arrangements sind ähnlich aufgebaut: Solitärgehölz, «Hecken-Säule», Kleinsträucher, Kletterer (mit die Farbe bestimmenden Dominanten und «wilden» Ergänzenden), Stauden und Zwiebeln. Die beiden Hauptexpositionen werden mit subtiler Rhythmik bespielt: Die Arrangements haben je dominierende Arten. Im Herbstkleid zeigt sich die Südseite eher rötlich, die Nordseite gelblich (vgl. Visualisierungen). Doch der Individualität des Konzeptes «Gartenwohnen» entsprechend, sind die Arrangements nicht starr, sondern Arten «überspringen» Pflanztröge und schaffen so Abwechslung.
Innerhalb der Arrangements wurden die Setzungen der Stauden auf die Bedürfnisse an Licht, Grösse usw. abgestimmt. Pflanzungen im Bereich der Storen wurden dem System des Herstellers angepasst.Die Arrangements werden auf den einzelnen Etagen nicht nacheinander, also von 1 bis 8 und wieder von vorne angeordnet, sondern auch hier springt man, lässt das Regelwerk der Setzung ins leicht Chaotische abdriften und unterstützt somit die organische Lebendigkeit.
Die Solitäre und der Grossteil der Sträucher wurden im Vorfeld ausgesucht und in Air-Pots im ausgewählten Dachgartensubstrat vorkultiviert. So konnte man auf Anpassungen der Terminpläne reagieren im Sinne der Baulogistik. Zu jeder Zeit konnten die Pflanzen ihr neues Wurzelwerk in das Pflanzsubstrat hinein entwickeln.
Pflege
Jährlich sind vier bis fünf Pflegedurchgänge nötig, die durch Industriekletterer durchgeführt werden. Da es sich um individuelle Eigentumswohnungen handelt, muss zum Schutz der Privatsphäre so viel wie möglich von aussen unterhalten werden, doch sind ein bis zwei Pflegedurchgänge durch die Wohnungen erforderlich.
Ausklang
Was das Projekt neben der Pflanzenvielfalt und dem Bewässerungskonzept auszeichnet, ist die Tatsache, dass alle Etagen, alle Balkone und die dazugehörigen Gärten unterschiedlich sind. Die allgemeine Tendenz zur Standardisierung kommt hier nicht zum Tragen: Die Vielfalt macht dieses Projekt einzigartig. Das Grün verschmilzt in jeder Etage mit der Wohnung, die Fassade wird lebendig – das Ganze zum Garten-Hochhaus.
Die grüne Fassade ist gebaut – nun beginnt die neue Phase. Der Unterhalt der Tröge und ihrer Pflanzung liegt bei den Unternehmern und nicht bei den Bewohnern. Die Dynamik der Entwicklung der Pflanzen, die Auswirkungen von Klima und realen Jahreszeiten sind nicht vollumfänglich plan- und kontrollierbar. Doch im Gegensatz zu den Hängenden Gärten der Semiramis wird das Wissen um die Konstruktions- und Bewässerungsmethoden des Wohnturms «Suurstoffi» nicht mehr verloren gehen. |
Schon jetzt darf man gespannt sein, wie sich die Begrünung in rund 2 oder 5 Jahren aussehen wird und welche Erfahrungen für andere wegweisende Projekte gewonnen werden können.