Hängend am Seil wird wohl seit Urzeiten gearbeitet. Es ist ein harter Job, der eine gute Physis und absolute Schwindelfreiheit verlangt. Die ersten Reglementierungen enstanden in den 1980er-Jahren, als die Seilzugangstechnik zum Unterhalt von Offshorebohrinseln angewendet wurde. Um das Risiko zu minimieren, mussten die Arbeiter die Zweiseiltechnik anwenden, die im Unterschied zum alpinen Klettern oder im Vergleich zu Höhlenforschen eine Redundanz bietet. Dabei muss das Seilsystem über mindestens zwei getrennt voneinander befestigte Seile verfügen: eines als Zugangs-, Absenk- oder Haltemittel (Tragsystem TS) und das andere als Sicherungsmittel (Sicherungsseil SiS). Es entstand der erste Verband für Seilzugangstechnik, die IRATA (Industrial Rope Access Trade Association), der einen dreistufigen Lehrgang für Industriekletterer aufbaute. Diese drei Levels bei der Ausbildung wurden von allen anderen Verbänden übernommen. Sie gelten als Zusatzausbildung, da «nur» eine alternative Zugangsform zum Arbeitsplatz vermittelt wird. Entsprechend haben die meisten Industriekletterer eine Berufslehre abgeschlossen, bevor sie lernen, am Seil zu arbeiten.
Etwas anderes ist es bei den Baumpflegespezialisten, die eine mehrjährige Ausbildung absolvieren und ihr Metier – das Pflegen von Bäumen mit Klettertechnik – von der Pike auf lernen. Die beim Baumklettern angewendete Seiltechnik im Industriebereich wird allerdings nicht anerkannt, da es keine konsequente Zweiseiltechnik ist. Dies macht das Projekt Suurstoffi so einzigartig: Es braucht Fachleute für Grünpflege mit einer Zusatzausbildung als Industriekletterer. Die Mitarbeiter von Ingold haben die Ausbildung nach dem SPRAT-Standard absolviert und werden am Objekt von Level-3-Technikern von Toprope begleitet. Die Mitarbeiter von Toprope bekommen im Gegenzug einen Crash-Kurs in Pflanzenschnitt und werden von den Spezialisten von Ingold unterstützt. So entsteht eine nachhaltige Zusammenarbeit.
Umfassendes Sicherheitsreglement
Seilpflegearbeiten am Hochhaus sind streng reglementiert und in einem 15-seitigen Pflichtenheft festgehalten. Darin sind folgende, hier nur kurz zusammengefasste wesentliche Punkte enthalten:
• Arbeiten mit Persönlicher Schutzausrüstung gegen Absturz (PSAgA) nur durch ausgebildetes Personal.
• Keine Alleinarbeit mit PSAgA.
• Die Mitarbeiter müssen sich gegenseitig überwachen.
• Rettung ist jederzeit mit eigenen Mitteln sicherzustellen (in 10 bis 20 Min.). Vor Arbeitsbeginn muss das Rettungskonzept besprochen werden.
• Arbeiten in der Höhe müssen schriftlich geplant werden.
• Absturzsicherungsmassnahmen ab 2 m Absturzhöhe müssen getroffen werden (Ausnahme: ab 3 m auf Dächern und mobilen Leitern).
• Kollektivschutz und technische Hilfsmittel wie Hubarbeitsbühnen sind Arbeiten am Seil vorzuziehen.
Die Pflege am Gartenhochhaus Aglaya wäre wegen der ausladenden Balkone mit Befahranlagen nicht möglich gewesen. Dank der an den Balkonuntersichten angebrachten Schienensysteme können alle Pflanzen von den Kletterern erreicht werden. Insgesamt sind vier Pflegedurchgänge pro Jahr vorgesehen, zwei durch die Wohnungen, zwei am Seil. Während der Tag am Seil nicht stundengenau getaktet ist, müssen die Arbeiten mit Zugang durch die Wohnungen zeitlich exakt vorbereitet werden. Hierfür wird ein genauer Plan erstellt, der angibt, an welchem Tag, zu welcher Zeit die über 80 Wohnungen betreten werden können.
Gute Anfangsentwicklung
Für einen Pflegedurchgang, der etwa zwei Wochen beansprucht, sind fünf bis sechs Mitarbeiter im Einsatz. Neben den Einsatzplänen müssen zudem immer genügend Ersatzpflanzen bereitstehen, vor allem bei den Pflegedurchgängen am Seil. Wird bei einem Balkon einer Wohnung Ersatz benötigt, so muss dieser dem am Seil arbeitenden Team sofort zur Verfügung stehen. Kalkuliert wurde mit einem Pflanzenersatz von 5 bis 8 % im ersten Jahr. Tastächlich benötigt wurden Ersatzpflanzen von gerade einmal 3 bis 5 %. Bäume und Grosssträucher haben sich gut entwickelt und benötigten erfreulicherweise keinen Ersatz. Einzelne Kleinsträucher, Kletterpflanzen und Stauden mussten ersetzt werden. Insgesamt hat sich die Bepflanzung sehr gut entwickelt, was schon von Weitem ersichtlich ist und der Visualisierung nach weniger als einem Jahr bereits sehr nahekommt.
Der Arbeitsbereich der Kletterer wurde am Fuss des Gebäudes grosszügig abgesperrt. Viele Leute haben die Absperrung jedoch ignoriert, weswegen der Bereich während der gesamten Ausführung durch eine weitere Person zusätzlich geschützt wurde. Insgesamt dauerte der Klettereinsatz acht Tage, zwei Tage kamen noch für die Pflege der Pflanzungen in den Etagen 17 und 22 hinzu. In dieser Zeit wurden fast 20 m3 Grüngut über das Seil entsorgt.
Gärtnerisches Neuland erschlossen
Mit dieser Begrünung wurde in vielen Punkten gärtnerisches Neuland betreten. Einige Arbeiten wurden in dieser Form und in einer solchen Dimension noch nie in der Schweiz ausgeführt. Nach den ersten neun Monaten nach Fertigstellung zeigt sich nun auch, dass nicht alles 100 % perfekt ist. An einigen Orten weht der Wind das Substrat auf die Balkone, vor allem dort, wo später Wände in den Pflanzrabatten hinzukamen. Hier bilden sich Turbulenzen und das Substrat wird hochgewirbelt. In den Nischen, die in
das Gebäudeinnere ragen, kommen die Pflanzen teilweise nicht mit den Lichtverhältnissen zurecht, trotz des dort geschaffenen Kunstlichts. Hier gilt es, die Pflanzenwahl noch zu optimieren. Auch bei der Bewässerung gibt es kleinere Mängel, die sich aber nicht gravierend auf das Pflanzenwachstum auswirken. Die gesamte Begrünung und Technik entwickelt sich sehr positiv und soll Investoren auf der ganzen Welt zeigen, dass ein solch begrüntes Hochhaus seine Berechtigung hat. Jetzt und in Zukunft noch mehr. |
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