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Das Bedürfnis nach Naturnähe

Das Bedürfnis nach Naturnähe mit ästhetischen Ansprüchen zu vereinbaren, darin liegt eine anspruchsvolle Aufgabe begründet.

Ein Nebeneinander von Mensch

Ein Nebeneinander von Mensch und Natur ist möglich. Den Spatzen fehlen im Siedlungsraum jedoch immer häufiger Sand und Pfützen für ihre Hygiene.

Derartige Gärten sorgen

Derartige Gärten sorgen für Vielfalt und angenehmes Mikroklima.

  • Landschaftsarchitektur

Biodiversität und Gestaltung

Die ILF-Tagung von Ende September an der HSR Hochschule für Technik in Rapperswil ging der Frage nach, wie sich ökologische Ziele und das Bedürfnis nach Naturnähe und Erholung mit den ästhetischen und repräsentativen Ansprüchen im Siedlungsraum vereinbaren lassen.

Nach Ansicht des ILF, Institut für Landschaft und Freiraum, wird die Thematik «Natur im Siedlungsgebiet» in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen. Treibende Kraft dafür ist die Urbanisierung der Landschaft und die Verdichtung
der bebauten Räume. Da die Siedlungs­räume für die Landschaftsarchitektur das wichtigste Tätigkeitsfeld darstellten, ist die Auseinandersetzung mit der Stadtökologie ein Muss. Wie Dominik Siegrist, Leiter des ILF, in seiner Eröffnungsansprache ausführte, zeigen Volksabstimmungen, dass der Bevölkerung naturnahe Freiräume ein grosses Anliegen sind. Städte sollen nicht nur Leuchttürme der guten Gestaltung werden, sondern der Biodiversität mehr Platz zugestehen. Er wünsche sich, dass der Graben zwischen Biodiversität und Gestaltung immer kleiner wird.

Kultur frisst Natur – muss das sein?

«Ich bin nicht Architekt», sagte Andreas Moser vom Schweizer Radio und Fernsehen, den viele aus der Sendung «Netz ­Natur» kennen. «Ich bin Biologe, habe aber mit meinen Architektenkollegen viele sportliche Diskussionen über Gestaltung», fuhr Moser fort, und unterstrich damit als einer der wenigen
Naturwissenschaftler unter den Referenten seinen Denkansatz. Architekten verstünden sich als Künstler. Die Bio­logie aber strebe nach Nachvollziehbarkeit, es gelte der Fakt und nicht die Meinung.

Er erklärte den Titel seines Vortrages mit der Frage, ob der Mensch wirklich Teil der Natur sei, wenn er sie sich untertan mache. Anhand der Umgebungsgestaltung des Glattparks in Zürich, wo die Natur keinen eigenen Raum habe, verdeutlichte er seine Meinung. Die adrette Baumreihe erinnere ihn an das Antrittsverlesen in der Rekrutenschule und der sogenannte See sei nichts anderes als ein Betonbecken, bei dem mit viel Technik das Wasser aufbereitet werde. Jede Menge Verbote wiesen auf die töd­liche Gefahr für Kinder hin und unterbinde das Naturerlebnis. «Der Clou der Sache ist dieser Regenpfeifer. Als er nisten wollte, spannte man ein Vlies über den Baugrund», beklagte der Referent.

Es geht auch anders. Mit einem Dokumentarfilm zeigte Moser auf, dass den Tieren künstlerische Gestaltung egal ist. Die Eidechse läuft an der Trockenmauer in der Badeanstalt bei glühender Hitze zur Höchstform auf, während die Gäste sich müde sonnen, der Fuchs freut sich über die Abfälle des Menschen und für den Spatz ist Baden im Sand das Grösste. «Das zeigt, dass Mensch und Natur sich nahe sein können, dafür braucht es aber grüne Inseln, seien sie noch so klein», meinte Moser.

Der Biologe sprach auch die Gefahr der Neophyten, der eingeschleppten Krankheiten und Parasiten für die Biodiversität an und meinte, dass Planende ohne biologische Kenntnisse am Reissbrett die Gestaltungswünsche ihrer Bauherren entwickeln würden und dabei in nai­ver Absicht Fakten schaffen, die am Anfang vieler ökologischer Probleme stünden. Er appellierte an die Verantwortung der Landschaftsarchitekten, trotz Druck der Stakeholder dem schwächeren Argument der Naturnähe eine Lanze zu brechen. «Kultur frisst Natur» müsse nicht sein, wenn wir der Natur mit Respekt begegneten und nicht immer meinten, Gestaltung sei Kontrollieren und Domestizieren mit der Absicht, eine noch grössere Bevölkerungsdichte aufbauen zu können.

Biodiversität im Anthropozän

«Die Entwicklung der Menschheit spiegelt sich in der Landschaft», mit diesen Worten wies Christoph Küffer, Professor für Siedlungsökologie an der HSR, auf die ökologischen Veränderungen hin. Diese seien so substanziell, dass Wissenschaftler von einem neuen Zeitalter der Erdgeschichte sprechen. Im Anthropozän ist der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren für die ökologischen Prozesse auf der Erde geworden. Diese Epoche charakterisiere sich durch drei Aspekte:

• Alles verändert sich immer schneller.

• Der Mensch ist überall.

• Natur und Kultur verschmelzen.

«Bis zum 2. Weltkrieg ist fast nichts passiert und jetzt verändert sich alles gleichzeitig und immer schneller mit globaler Dimension, und das erst seit Kurzem!», bemerkte Küffer. In 20 Jahren werde der Mensch in einer Ökologie leben, die es heute noch nicht gäbe. «Die Artenvielfalt wird abnehmen, unsere Sommer werden anders sein und die Zeiten, in denen noch Hinterland zur Verfügung stand, sind vorbei. Der Mensch wird alle Regionen besiedeln», prophezeite der Referent und ergänzte, dass wir deshalb vornehmlich in gestalteter Landschaft mit wenig Naturerlebnis leben werden. Um der Natur die Grundlage zu geben, mit grossen und gleichzeitig auftretenden ökologischen Veränderungen umgehen zu können, müssten Planende die Artenvielfalt miteinbeziehen. Es sei keine resiliente Gestaltung, wenn Anlagen entstehen, in denen alle Bäume gleich aussehen. Für widerstandsfähige Ökosysteme brauche es Biodiversität.

Biodiversität – eine junge Idee

«Die Naturgartenidee mit dem Konzept, die Natur im Garten abzubilden, besteht mindestens seit 150 Jahren», erklärte Anja Löbbecke, freiberufliche Garten­designerin in Hannover, und führte die Zuhörerinnen und Zuhörer auf eine Zeitreise durch die Naturgartenkunst. Die Idee der Biodiversität sei aber wesentlich jünger. Erst zwischen 1985 und 2000 erreichten Umweltthemen breite Bevölkerungsschichten. Die Begriffe der Nachhaltigkeit und Biodiversität würden politisch gefördert und ersetzten den reinen Umweltschutzgedanken.

Auf die Frage, wohin denn die Reise in der Naturgartenkunst gehe, meinte Löbbecke, dass nicht immer nur einheimische Pflanzen eingesetzt werden müssten. «Um auf den Klimawandel zu antworten, sollen durchaus geeignete Pflanzen aus fremden Ländern Eingang in die Naturgärten finden», sagte die Gartendesignerin. Den Kampf gegen Neophyten empfindet sie als vergeblichen Versuch, an einem Status quo festzuhalten, denn Neophyten seien eine gegebene Veränderung.

Biodiversität versus Gestaltung

Die zentrale Frage aus dem Publikum, wie denn Biodiversität verkauft werden könne, wenn sie doch von so vielen Kunden als unschön empfunden werde, beschäftigte nicht nur Moser. «Schaffen wir Patchwork, kultivieren wir den Gedanken des Nebeneinanders. Edelrosen sind doch okay, wenn daneben etwas Natürliches wächst», beantwortete er die Frage. Auch Küffer mischte sich ein und meinte, dass wir nicht über fremde Arten reden sollten, als seien wir im Krieg mit der Natur.

Hansjörg Gadient, Professor für Landschaftsarchitektur an der HSR, knüpfte mit seinem Vortrag an die Publikumsfrage an: «Wir können uns nicht von unserem kulturellen Kontext lösen und einfach 5000 Jahre Gartenkultur vergessen.» Er zitierte die geraden Linien, die es bereits in den ägyptischen Gärten gab oder die Symmetrien von Vaux-le-
Vicomte. Auch Le Corbusiers Menschensicht des «l’homme marche droit parce qu’il a un but» fand Eingang in die Stadtplanung. Die Geometrie sei Ausdruck des Kultivierens und der Ordnung, um unter anderem Produktivität zu erzeugen. Das Ungeordnete wird mit Chaos und Krankheit assoziiert. Das sei der Grund, weshalb wir Biodiversität an gewissen Orten nicht schön finden, obwohl wir sie eigentlich fördern wollen.

Um Dinge, die nicht schön aussehen, aber ökologisch wertvoll sind, mit solchen Dingen zu kombinieren, die ­ästhetisch ansprechen, jedoch ökologisch nicht sinnvoll sind, sieht der Professor zwei Strategien. Die eine ist jene des «Naturzitates». Im Parc des Buttes-Chaumont in Paris wird Natur zitiert. Als neuestes Beispiel nannte er den Novartis Campus als Kunstwerk eines Naturzitates. «Wenn diese Strategie noch auf die Anliegen des Naturschutzes präzisiert wird, erachte ich sie als sehr leistungsfähig.»

Für die Strategie «Messy ecosystems and orderly frames» – entwickelt von Joan Iverson Nassauer – liess Gadient Absolventen in Landschaftsarchitektur zu Wort kommen. Sie haben sich in ihrer Abschlussarbeit mit der Theorie «unordentlicher Flächen und ordentlicher Grenzen» auseinandergesetzt. Katrin Grossen­bacher hatte sich zum Ziel gesetzt, Gestaltungsprinzipien zu finden, die Ästhetik und Ökologie verbinden. Dabei ergaben sich drei geeignete Prinzipien. Erstens können Ränder gestaltet werden, entweder «messy» oder «orderly». Da Ränder ­schmal oder breit sein können, wirken sie dann als Grenze oder aber als Übergänge. Beim zweiten Prinzip werden die Flächen unordentlich belassen (messy ecosystems), die Ränder werden aber gestaltet (orderly frames). Durch die Umkehrung dieser Idee lässt sich ein drittes Prinzip ableiten, nämlich jenes geordneter Innenbereiche (orderly islands) wie eine Rasenfläche, umgeben von wildem Gestrüpp (messy frames).

Delizia Polli setzte sich damit auseinander, wie mit einheimischen Gehölzen optimal gestaltet werden kann. Die Massierung mit einer Anhäufung blühender Kornelkirschen, die Formierung mit Kopfweiden, die Exposition einer Birkenrinde oder die kontrastreiche Kombination weis­ser Blütenstauden vor einer dunklen Eibenhecke sind Möglichkeiten, Ökologie und Gestaltung zu kombinieren. Leider bremse der Wunsch nach Pflegeleichtigkeit die Bemühungen stark aus.

Handlungsbedarf aus Sicht des Naturschützers

«Wir haben es sträflich vernachlässigt, die wichtigen Akteure wie die öffentliche Hand, Pensionskassen und Architekten zu sensibilisieren, wir hatten nur die Privateigentümer im Fokus», gestand André Stapfer selbstkritisch. Der Professor für Landschaftsökologie an der HSR räumte weiter ein, dass es nicht genüge, nur Merkblätter abzugeben. Wir müssten partnerschaftlich aufeinander zugehen, denn die Wunschvorstellung der Bevölkerung und die Realität drifteten auseinander. So belegt eine grosse Umfrage im Kanton Aargau, dass es die Natur als Standortfaktor auf Platz 1 schafft, weit vor dem Faktor tiefer Steuern. Auch mache es Sorge, zu sehen, wie verdichtet werde und die Vielfalt in früheren Gärten der Monotonie weiche, trotz Wunsch nach Natur vor der eigenen Haustür. Die Nachfrage nach Siedlungsgrün werde weiter ansteigen, zeigte sich Stapfer überzeugt, denn alleine der Klima­wandel werde verdichtete Quartiere enorm aufheizen.

Erfahrungen aus Projekten

Aus den zahlreichen Projektvorstellungen entnahm der Besucher die eine oder andere Erkenntnis. So bemerkte Raymond Vogel von der Raymond Vogel Landschaften AG, dass Planende trotz intensivster Auseinandersetzung mit der Materie erst mit der Fertigstellung des Baus wissen, ob etwas wirklich funktioniert. Maren Brakebusch von der Vogt Landschaftsarchitekten AG meinte, dass Kritik immer auf die Gestaltung zielt, die Rahmenbedingungen hingegen akzeptiert werden. «Deshalb ist es wichtig, dass mit der Gestaltung eine Geschichte erzählt wird, nämlich die, die uns alle angeht – die Naturerfahrung.» So lasse sich das mit einem Bild nicht übermittelbare Thema der Biodiversität besser vermitteln. Doch damit Biodiversität und Gestaltung glaubwürdig seien, müsse die Gestaltung zum Ort passen, meinte Matthias Krebs von Rotzler Krebs Partner GmbH abschliessend.

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